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Wie so viele Frauen in dieser Zeit hatte auch Aurora Komplikationen bei der Geburt. Sie starb zwar nicht im Kindbett, aber ihr wurde nahegelegt keine weiteren Kinder mehr zu bekommen, um es nicht doch noch dazu kommen zu lassen.
So blieben sie also zunächst zu viert. Während Iberian und Aurora weiterhin ihrer gemeinnützigen Arbeit nachgingen, kümmerte sich Großmutter Caballera um den kleinen Ioram.
Es war eine fröhliche Zeit voller Güte und Zärtlichkeit. Der jüngste Lanilor wurde von allen vergöttert. Er hatte zwar nicht die engelhaften, goldenen Locken seiner Mutter geerbt, doch seine strahlend blauen Augen bildeten einen solch atemberaubenden Kontrast zu seinem pechschwarzen Haar, dass niemand seinem Anblick wiederstehen konnte. Die Bürger Peridians pflegten ihn mit „kleiner Herr“ oder „Prinz“ anzusprechen. Dies gefiel seinen Eltern überhaupt nicht, denn auch wenn sie sehr stolz auf ihren Sohn waren und mit Freude seine Beliebtheit beobachteten, fürchteten sie sich dabei ein wenig, dass der Charakter des Jungen darunter leiden könnte.
Mittlerweile hatte Iberian seiner Frau berichtet woher er stammte. Aufgeregt hörte sie ihm dabei zu, wie er die Geschichte wiederholte, die ihm vor nicht allzu langer Zeit seine ehemalige Kinderfrau erzählt hatte.
Während er erzählte, hielt sie seine Hand und ermunterte ihn weiter zu sprechen, wenn er traurig wurde.
Seit dem sprachen sie oft und viel miteinander über Tirnanòg und über ihren Traum eines Tages doch einmal dieses Land sehen zu können. Jeder Kaufmann und jeder Reisende wurden befragt, ob sie in diesem Land gewesen seien und wie die Situation mittlerweile dort aussieht, aber es schien ausweglos. Die Formoren herrschten immer noch, trotz zahlreicher Wiederstände der unterdrückten ehemaligen Bewohner und erbitterter Kämpfe mit wiederkehrenden Vertriebenen.
Die Zeit verging und der Knabe Ioram wuchs zu einem stattlichen jungen Mann heran. Seine Eltern waren sehr stolz auf ihn. Er half bei allen anfallenden Arbeiten in der wachsenden Stadt und studierte fleißig. Nicht jeder hatte in diesen Tagen die Möglichkeit eine Schule zu besuchen, weswegen eine solche Ausbildung umso wichtiger und erstrebenswerter war.
Mit dem Wissen, das Ioram erlernen sollte, würde er eines Tages seiner Stadt und seiner Familie eine große Hilfe sein.
Bereits in jungen Jahren entwickelte er ein tiefes Verständnis für die Biologie. Sein Ehrgeiz und Wissensdurst halfen ihm auf seinem Weg ein guter Arzt zu werden. Zahlreiche Auszeichnungen und Preise zierten bald die Wände und Regale des elterlichen Hauses. Wie sein Vater wurde er zu einem angesehenen Bürger Peridians.
Eine erfüllte Kindheit und strebsame Jugend formten aus ihm einen zufriedenen Mann, der Freude an der Natur hatte und so gütig war, wie es ein Mensch nur sein konnte. So war es auch kaum verwunderlich, dass er als Junggeselle sehr beliebt bei den Damen des Ortes war. Doch die Damen wurden alle samt enttäuscht, denn Ioram hatte sich bereits in Aljana Mardaneos verliebt, die samt ihrer Mutter erst vor Kurzem nach Peridian gezogen war.
Als ein gutaussehender und beliebter junger Mann war Ioram weder schüchtern noch prüde. Er umgarnte Aljana mit vielerlei Komplimenten, machte ihr Geschenke und lud sie stets zu jeder Tanzgelegenheit ein. Dem Mädchen stieg der ganze Trubel fast zu Kopf. Trotz ihres recht hübschen Antlitzes war sie noch nie von jemandem so umschwärmt worden. Nach nicht allzu langer Zeit gab sie den Annäherungen von Ioram nach und verabredete sich mit ihm. Die Nachmittage, die sie zusammen verbrachten waren herrlich. Sie tanzten zusammen, sie lachten gemeinsam und kamen sich dabei immer näher.
In anderen Städten wäre es noch Brauch gewesen, dass die Eltern eine passende Braut für ihren Sprössling suchen, doch in Peridian liebte man die Freiheit. Dies galt sowohl für Männer, als auch für die Frauen. Also bat Ioram Aljana erst um ihre Hand, als er sich sicher war, dass sie ihn genauso liebte, wie er sie.
Die Hochzeit wurde, wie schon bei Iberian und Aurora im Gemeindezentrum gefeiert und wieder versammelte sich die gesamte Stadt. Das glückliche Paar wurde an einem herrlichen Junitag getraut und verlebte viele glückliche Jahre miteinander.
Aber natürlich gab es auch schlechtere Zeiten und alles schien mit der Geburt der „Vierlinge“ anzufangen....
Zunächst lebten Ioram und Aljana zufrieden miteinander in Peridian. Ioram praktizierte als Arzt und Aljana half ihm wo sie nur konnte. Eigentlich hatten sie nie viel über eine eigene Familie nachgedacht, doch als sie sich entschlossen ein Kind zu bekommen, wurde Aljana alsbald schwanger. Die Geburt wurde ein großes Ereignis, denn die junge Frau wurde in ihrem trauten Heim von Zwillingen entbunden.
Es waren prächtige Kinder. Ein Mädchen, das Aurelie genannt wurde und ein Junge mit Namen Ionesco. Aber das Seltsame an diesem Ereignis waren nicht die Kinder, sondern ihre bald darauf eingetroffenen „Geschwister“.
Als die Babys erst einige Tage alt waren, hörten die stolzen Eltern ihre Türglocke läuten. Es war bereits spät und sie erwarteten niemanden. Mit Verwunderung öffnete Ioram die Haustüre und bekam sogleich einen Schreck. Vor der Tür stand ein schwer verwundeter Mann mit zwei Bündeln in seinen Armen.
Die Bündel stellten sich als Neugeborene heraus, doch bevor Ioram auch nur eine Sekunde an sie verschwendete, bemühte er sich erst mal dem Unbekannten zu helfen. Trotz seiner enormen ärztlichen Begabung war es jedoch schon zu spät. Der arme Mann erlag seinen Verletzungen. Er konnte nur noch seinen Namen und die der beiden Weisenkinder nennen, denn sie waren nun Weisen. Der Mann hieß John Nasseydo und die beiden Findelkinder, seine eigenen Kinder, wurden auf seinen letzten Wunsch Rasmus und Trinity getauft.
Aljana entwickelte sofort eine starke Zuneigung zu den beiden Weisen und so wurden sie von ihr und ihrem Mann bei sich aufgenommen. Es stellte sich heraus, dass sie beinahe zur selben Zeit geboren wurden, wie Ionesco und Aurelie und dass ihre Mutter bei der Geburt gestorben war. Ihr Vater wurde auf dem Weg nach Peridian von Räubern überfallen und schwer verwundet. Er schaffte es gerade noch zum ersten Haus, dass er auf seinem Weg traf. Dies war das Haus der Lanilor, welches etwas abseits der Stadt stand.
Man hätte die beiden Zwillingspärchen leicht verwechseln können, wenn sie nicht so verschieden gewesen wären. Während Ionesco und Isabeau genau wie ihr Vater helle Haut, schwarzes Haar und blaue Augen hatten, wiesen die Neuankömmlinge etwas Exotisches an sich auf. Ihre Haut schimmerte bräunlich und die Augen waren pechschwarz und schräg geneigt. Solche Menschen waren bisher noch nie in Peridian gesehen worden, weswegen sie überall auffielen.
Alle vier Ziehgeschwister wuchsen gut und mit Liebe auf. Doch die beiden Adoptivkinder fühlten sich immer ein wenig ausgeschlossen. Sie passten nicht in diese Stadt, wo alle helle Haut und strahlende Augen hatten. Die Kinder in der Schule starrten sie an, die Lehrer bemitleideten sie. Aljana und Ioram versuchten ihnen gute Eltern zu sein. Alle vier wurden auf die selben Schulen geschickt, denn nun durften auch Mädchen die Schule besuchen, und alle vier wurden gleichermaßen geliebt. Aber dennoch... es blieb immer etwas an Rasmus und Trinity hängen, das sie anders machte. Als ob ihre Ausstrahlung sie zu anderen Menschen werden ließ.
Als sie noch Kinder waren, spielte ihre Andersartigkeit keine Rolle, denn sie verstanden es nicht. Aurelie war bei Rasmus besonders anhänglich. Sie vergötterte ihren Ziehbruder geradezu. Doch mit den Jahren kam auch die Erkenntnis. Obwohl jeder Bewohner Peridians sie mit Respekt und wie ihres gleichen behandelte, fühlten sich die Zwillinge zunehmend fremd in dieser Stadt. Diese Gefühle spitzten sich zu, bis sie eines Tages beschlossen ihren eigenen Weg zu gehen.
Aurelie war am Boden zerstört. Sie konnte nicht verstehen, warum Rasmus, mit dem sie sich so tief verbunden fühlte, sie verlassen wollte. Rasmus seinerseits liebte Aurelie und hätte sie sogar geheiratet, doch er musste zuerst seine eigenen Wurzeln finden, bevor er eine neue Familie gründen konnte. Seine Schwester begleitete ihn ebenfalls nicht, da er die Reise für zu gefährlich hielt. Trinity ließ sich nicht gerne dazu überreden, willigte schließlich aber um ihres Bruders Willen ein. Diesen Entschluss sollte sie allerdings sehr bald schon bereuen.....
Nur kurze Zeit nachdem Rasmus aufgebrochen war, befand er sich wieder in Peridian. Dies war jedoch kein Anlass zur Freude, denn der junge Mann kam nicht lebend zurück.
Auf seinem Wanderweg wurde Rasmus, wie einst sein Vater, von Räubern überfallen und da er sich gewehrt hatte, niedergestochen.
Trinity war daraufhin nicht mehr wieder zu erkennen. In einem Augenblick war sie extrem wütend auf die gesamte Welt, auf sich selbst, weil sie nicht mit ihrem Bruder gegangen war, auf die ihr verhassten Räuber, auf ihre Vorfahren, deretwegen Rasmus weggegangen war und alles, das ihr in den Sinn kam und im nächsten Moment versank sie in Trauer und Selbstmitleid. Dieser Gemütszustand dauerte einige Zeit lang an, bis sie sich selbst davon erlöste, indem sie sich das Leben nahm.
Aurelie wurde indes immer ruhiger. Sie verbrachte ungewöhnlich viel Zeit allein außer Haus. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Ioram und Aljana waren nach dem Tod zweier ihrer Kinder in so kurzer Zeit schwer bedrückt. Die „fremden“ Zwillinge waren ihnen sehr ans Herz gewachsen. Doch das noch junge Ehepaar tröstete sich gegenseitig und auch Ionesco kam über den Verlust seiner Geschwister und Freunde hinweg. Schließlich ging es allen so weit wieder besser, dass sie zum ersten Mal richtig bemerkten, wie zerstreut Aurelie geworden war.
Mittlerweile waren schon mehrere Monate seit den Beerdigungen vergangen und das Mädchen veränderte sich zunehmend. Als sie von ihrem Bruder eines Tages zur Rede gestellt wurde erlitt dieser beinahe einen Schock. Kaum volljährig war Aurelie schwanger und sie verriet partout niemandem wer der Vater war. So wurde sie nicht nur zu einer sehr jungen, sondern auch einer unverheirateten Mutter. Sie hätte in Peridian einen Skandal ausgelöst, wenn die Familie Lanilor nicht so beliebt und ihr Schicksalsschlag nicht bekannt gewesen wäre. Das kleine Mädchen, das Aurelie zur Welt brachte, bekam den Namen Isabeau. Damit missachtete sie sowohl die Tradition ihrer Familie, nach der nur die männlichen Nachkommen Namen mit dem Anfangsbuchstaben I erhalten, als auch die Tatsache, dass bisher alle Lanilor Frauennamen mit A anfingen.
Die Geburt ihrer Tochter schwächte Aurelie zusehends, bis sie an einem wunderschönen Herbstabend an einer mysteriösen Herzkrankheit starb.
Sie wurde an ihrem Lieblingsplatz unter einem Apfelbaum begraben.
Von nun an kümmerten sich zunächst die Großeltern und später Ionesco mit seiner Frau um seine kleine Nichte.
Ionesco lernte seine zukünftige Frau, Violetta, durch seinen Vater kennen. Sie war die Tochter eines alten Freundes und wurde nach ihren außergewöhnlichen, violetten Augen benannt.
Trotz dieser sie liebenden Ersatzeltern und bald sogar einem kleinen „Brüderchen“ war Isabeau stets ein wenig unnahbar und in sich gekehrt. Sie schien sich wie damals Trinity und Rasmus nie richtig einzuleben. Im Gegensatz zu den Zwillingen passte sie aber zumindest äußerlich zu Peridian. Sie besaß die schwarzen Haare und blauen Augen ihrer Familie und eine makellose weiße Haut....
Und dennoch wurde sie ein Außenseiter.
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Dienstag, 21. Juli 2009
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